Dr. Heinz Stahlhut, Berlinische Galerie, Berlin: What to do with paint


What to do with paint

zu Lev Khesins Malerei



in Katalog LEV KHESIN "atmospheres"

LÄKEMÄKER, 2008



Heinz Stahlhut



„Nun mach schon!” „Ja, aber wenn nun jemand guckt! Das darf man doch sicher nicht!” „Wenn Du Dich nicht traust, dann mach ich's eben!”

Dieser fiktive Dialog zwischen zwei Besuchern einer Ausstellung mit Gemälden des jungen Künstlers Lev Khesin könnte sich durchaus so oder ein wenig anders abspielen. Zu gerne würde man selbst die noch feucht und weich erscheinende Oberfläche seiner Bilder berühren, auf denen die Farbe oftmals in zähen Schlieren ausgestrichen ist. So entsteht der Eindruck, man könne die Oberfläche durch eine leichte Berührung mit der Fingerspitze noch umgestalten – wüsste man nicht, dass das Berühren von Kunstwerken tabu ist. Wer es trotzdem täte, dem offenbarte sich eine erstaunliche Empfindung: Die so flüssig und formbar erscheinende Oberfläche gibt dem Druck zwar leicht nach, ist dabei aber völlig resistent gegen jeden Versuch einer Verformung. Denn das vorliegende Gemälde hat Lev Khesin nicht mit Ölfarbe, sondern Silikon gemalt. Für die Wahl dieses für Gemälde bislang eher ungewöhnlichen Materials kann man mehrere Gründe anführen.



Erstens lässt sich Khesin mit der Wahl des Silikons in die Tradition der Moderne stellen, deren Vertreter auf die Forderung, zeitgemäss zu sein, mit der Verwendung neuer, bis anhin ungewöhnlicher Materialien für Malerei und Skulptur reagierten. Doch stellt sich die Frage, ob dieser inzwischen schon fast klassisch gewordene Ansatz für einen Künstler von Khesins Generation nicht schon ein bisschen angestaubt ist. Viel näher liegt es doch, die Inspiration für den Gebrauch des weich und schmierig erscheinenden Materials in der jüngeren Pop Art und darüber hinaus zu suchen. Denn diese experimentierte erstmals ausgiebig mit Motiven und Materialien, die in noch konsequenterer Weise mit dem Kanon der Hochkunst brachen und – wie James Rosenquists monumentale Spagetti-Haufen oder Cindy Shermans Fotos von Erbrochenem, Piero Manzonis Künstlerscheisse oder die (vermeintlichen) Exkremente in den Performances von Paul McCarthy – durchaus die Grenze des “guten Geschmacks” überschritten. Dieses Moment von Ekel und Trash, das Khesin in jüngeren Kompositionen durch die Einfügung von Flitter und Glimmer bewusst ausreizt, wird in Kompositionen wie Nihilartikel von 2006 oder expliziter in Ponask von 2008 noch erweitert. Denn das Silikon in Khesins Gemälden erinnert besonders dort mit seiner weichen Materialität und trüben Transparenz an Vaseline, wie sie in den Filmarbeiten und Installationen Matthew Barneys exzessiv Verwendung findet und dort wie hier unmittelbar auf Körperliches, auf Verfall und Auflösung anspielt.



Farbe als Licht

Doch die Verwendung von Silikon lässt sich damit noch nicht erschöpfend erklären; vielmehr erscheint sie retrospektiv auch in formaler Hinsicht nur konsequent.

In verschiedenen Fotos Khesins, der seine Ausbildung zum großen Teil bei Frank Badur absolviert hat und von daher im essentiellen Umgang mit Farbe bestens vertraut ist, wird durch das Motiv der Reflektion farbigen Lichts auf nassen, nächtlichen Strassen sein besonderes Interesse an der Verschränkung von Farbe und Licht, Dunkel und Reflektion bezeugt.

Frühe malerische Arbeiten Khesins zeigen, dass er diese Phänomene schon in der Verwendung von Ölfarbe gesucht hat, aber offenbar nicht zu seiner Befriedigung realisieren konnte. Durch den Gebrauch des Silikons hingegen, in dessen transparente Masse das Pigment teilweise schon vor dem Malvorgang eingemischt ist, teilweise erst während des Malvorgangs aufgestreut wird, durchdringen sich Farbe und Licht. Denn nicht allein liegen in Kompositionen wie Per Proc. von 2006 oder Quadragintireme von 2008 die verschiedenen Malschichten semitransparent übereinander, so dass sie - blickt man frontal auf die Bildfläche - als Farbfelder erscheinen, deren Grenzen nie wirklich auszumachen sind; erst an den Rändern der durch die dicke Grundplatte recht weit von der Wand abstehenden Bildobjekte wird das Reservoir sichtbar, das sich dort durch das Verstreichen der Farbe angehäuft hat und in dem wie in einer Bild-Geschichte die verschiedenen Farblagen ablesbar sind.

Darüber hinaus kann das Licht die transparenten Lagen durchdringen und tiefer liegende Bereiche zum Leuchten bringen.

Eine Verbindung von Farbe und Licht wird zwar in der Malerei schon seit mehr als einem Jahrhundert von Richtungen wie dem Pointilismus, dem Fauvismus und dem Expressionismus oder von Farbfeldmalern wie Mark Rothko angestrebt. Doch wurde dort die Lichthaltigkeit der Farbe zumeist durch Kontrastwirkungen erreicht oder das Farbmaterial wurde durch bewusste Zurückdrängung seiner Materialität transzendiert zu reiner Lichterscheinung.

Khesin hingegen scheint ebenso fasziniert von der zähflüssigen Masse seines Farbmaterials, das er nicht nur mit Spachteln und Rakeln verstreicht, sondern auch mit anderen Instrumenten formt, wobei dem Zufall eine große Rolle zukommt. Denn wenn er wie bei den schon erwähnten Gemälden Ponask oder Nihilartikel die Farbmasse durch ein Lochblech auf die Unterlage streicht oder das Blech auf schon aufgetragene Masse presst, ist die entstehende Form trotz des regelmäßigen Lochrasters nur bedingt steuerbar.



Farbe als Material Durch diesen Gegensatz zwischen der strengen Form des regelmäßigen Rasters und der Unform des weich und flüssig erscheinenden Farbmaterials, der - wie die durch besonders enge Raster erzeugte Vibration und bewusst eingesetzte Zufallsprozesse in der Bilderzeugung - eine Nähe zu frühen ZERO-Arbeiten bezeugt, wird aber vor allem die Farbe als plastisches Material anschaulich gemacht.

Lev Khesin hat in diesem Zusammenhang auf das Vorbild Robert Rymans hingewiesen, der präzise zwischen den (in der deutschen Übersetzung gleichlautenden) “colour” and “paint” unterschieden hat. Als “Colour” gilt Ryman die visuelle Erscheinung der Buntfarbe, während er unter “paint” Farbe als plastisches Material versteht – ein Konzept, an das Khesin unmittelbar anschließt. In seinen Gemälden verbindet er beide Formen von Farbe, überbrückt so einen eigentlich unüberwindbar erscheinenden Widerspruch: Die Ungreifbarkeit des farbigen Lichts steht gleichrangig neben der Materialität der Farbe. Fast scheint es, als gehe Khesin damit gar über Ryman hinaus, für den die in seinen Bildern häufige, weiße Monochromie nicht in derselben Weise metaphysisch aufgeladen ist, wie dies beispielsweise noch für ZERO gegolten hat, sondern vor allem die inhaltliche Neutralität des Farbmaterials anzeigen soll.

Bei Khesins Malerei entstehen manchmal durch Abstreichen der Farbe gar sackartig hängende Formen, die wie bei Icasm von 2007 die Schwere des Materials geradezu fühlbar machen. Dadurch werden Seh- und Tastsinn gleichermaßen angesprochen, die laut abendländischem Verständnis spätestens seit der Aufklärung einen deutlichen Gegensatz bilden. Sehen wird als die distanzierende, „reine” und geistige Wahrnehmungsform verstanden, dem das Tasten als „kontaminierende” Kontaktwahrnehmung entgegengesetzt und untergeordnet ist – eine Gegenüberstellung, die sich bis in den Disput um gegenständliche Darstellung und Abstraktion verfolgen lässt, in Khesins Malerei hingegen aufgelöst wird.



So zeigt die Vielzahl von Konnotationen, die sich in Lev Khesins Gemälden der letzten Jahre verschränken, dass er bei der Wahl seines Materials eine ebenso glückliche wie erfahrene Hand gehabt hat.